Gottesdienst an Karfreitag 2021, 2. April, 10:30 Uhr, Amanduskirche
Schriftlesung: Lukas 23, 33-49 (bitte im Voraus lesen)
Text: Jesaja 52,13 - 53,12 (erst am Ende der Predigt)
Liebe Gemeinde,
heute beginne ich meine Predigt zu Karfreitag überraschenderweise mit einem berühmten Spross aus unserer Nachbarstadt Marbach. Oder besser gesagt mit einem echten Schiller, genauer einer Ballade, die er am 30. August 1798 fertiggestellt hat. Es ist die Ballade von der BÜRGSCHAFT, die dem einen oder anderen von Ihnen geläufig oder vertraut sein dürfte.
Ich trage Ihnen mal den Anfang vor:
Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Möros, den Dolch im Gewande -
Ihn schlugen die Häscher in Bande.
„Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!“,
entgegnet ihm finster der Wüterich.
„Die Stadt wollt ich vom Tyrannen befreien!“
„Das sollst du am Kreuze bereuen!“
„Ich bin“, spricht jener, „zu sterben bereit
Und bitte nicht um mein Leben,
Doch willst du Gnade mir geben,
Ich flehe dich um drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit,
Ich lasse den Freund dir als Bürgen,
Ihn magst du, entrinn ich, erwürgen.“
Liebe Gemeinde,
Ich weiß nicht, ob Schiller ganz bewusst mit dem Geschehen von Karfreitag gespielt hat, als er diese Ballade schrieb. Zunächst einmal scheint dies unwahrscheinlich, wird doch hier ein Mann auf frischer Tat ertappt, als er dabei ist, den Tyrannen der Stadt zu töten. Das können wir mit Christus nicht in Verbindung bringen.
Doch dann – im weiteren Verlauf – ergeben sich Hinweise, die durchaus an das Geschehen in Jerusalem erinnern:
Der angekündigte Kreuzestod, die Bereitschaft zu sterben, die drei Tage Zeit, die der verhinderte Befreier braucht, um Wichtiges zu erledigen, und dann das Motiv der Stellvertretung: Einer, nämlich der Freund, soll für ihn bürgen, bis er wieder zurück ist. --- Ich trage wieder vor:
Und er kommt zum Freunde: „Der König gebeut,
Dass ich am Kreuz mit dem Leben
Bezahle das frevelnde Streben,
Doch will er mir gönnen drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit,
So bleib du dem König zum Pfande,
Bis ich komme, zu lösen die Bande.“
Und schweigend umarmt ihn der treue Freund
Und liefert sich aus dem Tyrannen,
Der andere ziehet von dannen.
Und ehe das dritte Morgenrot scheint,
Hat er schnell mit dem Gatten die Schwester vereint,
Eilt heim mit sorgender Seele,
Damit er die Frist nicht verfehle.
Doch nun, wie es kommen muss in einem echten Drama, verändern sich alle Vorzeichen und es scheint der Gnade an allem zu mangeln. Ein gewaltiger Wettersturm verhindert stundenlang, dass er den Fluss überqueren kann, und als er schließlich drüben ist, wird er von einer Rotte Räubern überfallen. Mutig kämpft er auch sie nieder, muss sich dann mit der Hitze des Tages plagen bis zum Abend. Alles scheint zu spät zu sein, zwei Wanderer hört er sagen: „Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen.“
Doch die Verzweiflung gibt ihm neue Kraft, auch die Worte seines treuen Dieners, der ihm entgegenkommt mit der dringenden Bitte, doch nun wenigstens sein Leben zu retten, weil es zu spät sei, ignoriert er…und sagt stattdessen:
„Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht
als Retter willkommen erscheinen,
So soll mich der Tod ihm vereinen.
Des rühme der blutge Tyrann sich nicht,
Dass der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht,
Er schlachte der Opfer zweie
Und glaube an Liebe und Treue.“
Und die Sonne geht unter, da steht er am Tor
Und sieht das Kreuz schon erhöhet,
Das die Menge gaffend umstehet,
An dem Seile schon zieht man den Freund empor,
Da zertrennt er gewaltig den dichten Chor:
„Mich, Henker“, ruft er, „erwürget!
Da bin ich, für den er gebürget!“
Und Erstaunen ergreifet das Volk umher,
In den Armen liegen sich beide
Und weinen vor Schmerzen und Freude.
Da sieht man kein Auge tränenleer,
Und zum Könige bringt man die Wundermär,
Der fühlt ein menschliches Rühren,
Lässt schnell vor den Thron sie führen.
Und blicket sie lange verwundert an.
Drauf spricht er: „Es ist euch gelungen,
Ihr habt das Herz mir bezwungen,
Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn,
So nehmet auch mich zum Genossen an
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In eurem Bunde der Dritte.“
Liebe Gemeinde,
vielleicht ist niemals eindrücklicher erzählt worden, was es bedeutet, wenn ein Mensch für einen anderen zu sterben bereit ist. Und was Menschen aus Liebe und Treue zu tun bereit sind. Denn Möros kämpft ja gegen alle Gewalten, um rechtzeitig zu seinem eigenen Tod zurück zu sein. Was für ein Paradox aus Liebe!
Er kämpft an seinem letzten Lebtag gegen den Tod und für das Leben, das Leben seines Freundes, der unschuldig in der Hand des Tyrannen sich befindet.
Allein den Gedanken an ein eigenes Davonkommen, nachdem sich ihm alle Welt und ihre Gewalten entgegenzustellen scheinen, lässt er gar nicht zu. „Selbst wenn ich den Freund nicht retten kann, so soll doch der Tyrann an Liebe und Treue glauben“ sagt er, und dann eben uns beide töten.
Mit dieser Erwartung kehrt er zurück. Wenn schon der Freund nicht mehr zu retten ist, dann will er auch mit ihm sterben.
Doch, so erzählt uns Schiller, das Gegenteil geschieht, beide dürfe leben – und gewinnen das Herz des Tyrannen, der offenbar bekehrt wurde durch diese Tat, der einsieht und versteht: Die Treue ist kein leerer Wahn, es gibt sie wahrhaftig. In ein solches Lebensbündnis hinein möchte er sich weben, weil es noch stärker ist als die Macht des Todes.
Liebe Gemeinde,
heute ist Karfreitag.
Und wir haben gehört vom Tod Jesu, wie ihn der Evangelist Lukas erzählt hat.
Wir haben gehört, dass Jesus für seine Mörder gebetet hat: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Wir haben mit Entsetzen die Abgestumpftheit der Soldaten wahrgenommen, die um seine Kleider das Los werfen und den Spott der Umstehenden ertragen, die sich an seiner Hilflosigkeit zu erfreuen scheinen. „Anderen hat er doch auch geholfen, sich selber kann er nicht helfen“, nehmen sie zum Beweis dafür, dass Jesus dieses Urteil verdient hat.
Wir haben uns gefragt, wer die Leute sind, die – wie ja auch bei Schillers Bürgschaft- einfach nur gaffend dabeistehen und zuschauen – und haben uns erinnert, dass wir das auch kennen, dieses Bedürfnis zum Schauen, wenn irgendwo ein Unglück passiert ist.
Wir haben gehört, dass auch einer der Mitgekreuzigten über Jesus gespottet hat, jetzt, nur kurze Zeit vor seinem eigenen Tod.
Wir haben wieder einmal in die tiefsten Abgründe des Menschen gesehen.
Und uns vielleicht wieder einmal gefragt: Haben wir eigentlich Hilfe und Rettung verdient, Erlösung und Vergebung der Schuld, von der der Karfreitag spricht? Ist es der Mensch denn wert, dass sich „ein Gott über ihn erbarmt“, wie es bei Schiller an einer Stelle heißt? Lohnt sich denn die Liebe Gottes zu diesem Geschöpf oder sind wir eine fortwährende Enttäuschung?
War es denn richtig, dass Jesus an Karfreitag unsere Schuld zu seiner machte? War es denn gut, dass er bereit war, für seine Mitmenschen zu sterben, nachdem diese seine Liebe, seine Kraft, seine Güte, seine Heilungen offensichtlich nicht annehmen konnten?
Sowohl Schiller als auch das Neue Testament geben hierauf keine eindeutige Antwort. Der Mensch als Spezies, als Gesamtheit aller Personen, als Masse, als Gruppe, kommt in beiden Geschichten nicht gut weg, man ist zurecht bedrückt ob seiner Kälte, seiner Gleichgültigkeit, seiner Gewaltausübung.
Anders ist es offensichtlich nur beim Blick auf Einzelne, die durch ihre Haltung in der Lage sind, die Herzen zu verändern, die Welt mit neuen Augen anzusehen. Die Haltung des Helden bei Schiller ist ebenso beeindruckend wie Jesu Weg ins Leiden. Man wird berührt von der Kraft ihres Charakters, ihres unbedingten Willens zum Guten, zur Rettung der Nächsten, bei Schiller staunt man über den als Bürgen zurückgelassenen Freund, man teilt die Tränen in den Augen der Zuschauer und lobt die Umkehr des Tyrannen, der nun mit in diesen besonderen Lebensbund gehören will.
Nicht anders beim Evangelium:
Das eigene Herz schlägt schneller, wenn Lukas vom Mitgekreuzigten erzählt, der die wahre Natur seines Leidensgenossen erkannt hat, die Ursache für seinen Tod: Nicht seine Schuld, sondern seine Liebe hat ihn ans Kreuz gebracht. Und siehe da, allein diese Erkenntnis bringt sein Leben zurecht und gibt ihm eine neue Perspektive:
Deshalb, weil er das erkannt hat, sagt Jesus, wird er heute noch mit ihm im Paradiese sein. Was für eine Botschaft der Rettung in diesen Stunden der absoluten Verlorenheit!
Ist es also doch so, dass das Gute zuletzt doch über das Böse siegt? Ist es von entscheidender Bedeutung, dass, wie der Humorist Karl Valentin in feinsinnigem Humor formulierte, der Mensch an sich gut sei, nur die Leute wären schlecht?
Der Mensch an sich, der Mensch, wie er gemeint war, hat alle Gaben der Liebe und Güte und Treue und damit der Menschlichkeit zur Verfügung. Der Mensch an sich, das ist Christus. Der wahre Mensch, der eigentliche Mensch.
Nur in der einzelnen Person geschieht das Heilsame, nur der einzelne Mensch wird es auch fassen können. Denn es kommt nicht groß daher, es ist keine Überwältigung aller. Es ist nur für die zu sehen und zu hören und ins Herz zu bekommen, die tiefer blicken, feiner hören, stärker fühlen als andere.
Doch für sie ist es alles, ist es die Welt, ist es ein Evangelium. Ich lese bei Jesaja im Alten Testament den Text, der uns heute zur Predigt gegeben ist und der nun diese Predigt beschließen soll:
„Sieh, meinem Knecht wird´s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. Wie sich viele über ihn entsetzten - so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch und seine Gestalt nicht wie die der Menschenkinder - so wird er viele Völker in Staunen versetzen, dass auch Könige ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn was ihnen nie erzählt wurde, das werden sie nun sehen, und was sie nie gehört haben, nun erfahren. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, damit wir Frieden hätten und durch seine Wunden sind wir geheilt.
Amen.
Pfarrer Andreas Bührer